Kontrolle und Wachstum

Unternehmen sind komplexe Systeme und je größer ein Unternehmen ist, desto größer ist der Grad der Komplexität. Wie diese Komplexität durchschaut und beherrscht werden kann, darüber gibt es unzählige, sich teilweise ergänzende und teilweise widersprechende Theorien, die vor Allem dem Zeitgeist unterliegen. Allerdings ist das Versprechen Komplexität zu durchschauen bereits per Definition nicht haltbar, denn im Unterschied zum komplizierten System, welches schwer zu verstehen ist, aber dennoch beschreibbaren Regeln folgt, kann ein komplexes System, trotz (scheinbar) vollständiger Information, nicht beschrieben werden und kann damit auch nicht verstanden werden. Der Glaube das eigene Unternehmen vollständig zu verstehen, endet leicht in der Insolvenz. Dennoch ist unternehmerischer Erfolg kein reines Zufallsprodukt. Akzeptiert man die Tatsache, dass ein Unternehmen niemals vollständig verstanden werden kann, fällt es leichter sich darauf einzulassen, Handlungs-/Kontrollbereiche zu priorisieren und Komplexität auf ein beherrschbares Maß anzupassen.

Sehbereich als Analogie zum Handlungs-/Kontrollbereich

Sätze wie „Das glaube ich erst wenn ich es sehe!“ oder „Aus dem Auge, aus dem Sinn!“ machen deutlich wie wichtig „Sehen“ für die Wahrnehmung und die Wahrhabung ist. Daher ist der Sehbereich als Analogie zum Handlungs-/Kontrollbereich naheliegend und tatsächlich lassen sich viele Aspekte des Management damit eindrücklich darstellen.

In den Anforderungen an Bildschirmarbeitsplätzen der Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM) sind das Umblickfeld (mit 120°), das Blickfeld (mit 70°) und das Gesichtsfeld (mit 30°) als Arbeitsbereich definiert. Dabei ist der Fokusbereich (mit 4°), in dem scharfes Sehen möglich ist, noch deutlich kleiner angegeben. Je häufiger ein Arbeitsmittel benötigt wird, desto zentraler sollte dessen/deren Position sein.

Definierte Sehwinkel in Anforderungen für Bildschirmarbeitsplätze nach BGHM.

Als vereinfachte Analogie kann man sich ein Unternehmen als Büroarbeitsplatz und den Geschäftsführer als Büroarbeiter vorstellen. Am Arbeitsplatz (im Umblickfeld) steht nun ein Horizont von 120° zur Verfügung. Es wird ein anstrengender Arbeitstag, wenn permanent der Kopf und die Augen bewegt werden müssen um die Arbeit zu erledigen, daher müssen häufiger benutzte Arbeitsmittel in einen Bereich geschoben werden in dem nur die Augen bewegt werden müssen. Hierfür stehen aber nur noch 70° (Blickfeld) zur Verfügung. Arbeitsmittel ständig im Auge behalten werden müssen, müssen wiederum in einem Bereich stehen, in dem auch die Augen nicht bewegt werden müssen. Hierfür stehen nur noch 30° (Gesichtsfeld) zur Verfügung. Um die eigenen Aufgaben erfüllen zu können muss man allerdings scharf sehen können. Dafür stehen nur noch 4° (Fokusfeld) zur Verfügung. Gleichzeitig ist klar, 240° des Horizonts sind nicht einsehbar.

Entsprechend der Analogie steht einem Mitarbeiter im Unternehmen, sei es ein Geschäftsführer oder ein einfacher Angestellter, nur ein begrenzter Handlungs-/Kontrollbereich zur Verfügung, in den ein beherrschbares Maß an Komplexität passen muss. Während man sich bewusst sein muss, dass ein großer Teil des Unternehmens oder Arbeitsbereichs nicht selbst beherrschbar sind. Für den eigene Kernarbeitsbereich steht nur ein kleiner Teil der eigenen Kapazitäten zur Verfügung. Etwas mehr Kapazität dürfen Themen in Anspruch nehmen die immer im Auge behalten werden müssen, gefolgt von Arbeiten die häufig und Arbeiten die selten überprüft werden müssen. Diese Kapazitätsbereiche überschneiden sich selbstverständlich nicht, sondern begrenzen sich selbst und gegenseitig. Wer den ganzen Tag damit verbringt Arbeiten zu prüfen, die nur selten geprüft werden müssen hat keine Zeit mehr wichtigere Tätigkeiten zu erledigen und wer glaubt ihm stünde ein breiterer Fokus zur Verfügung wird schnell von der Realität überrollt. Durch geeignete Maßnahmen (organisatorisch, personell, technologisch, …) muss Komplexität soweit aufgeteilt werden, bis ein für Einzelne beherrschbares Maß entsteht.

Kontrollverlust durch wachsende Komplexität

Ein selbstständiger Handwerker überblickt möglicherweise weitgehend sein Produkt und sein Unternehmen. Sein Kundenkreis ist überschaubar, in betriebswirtschaftlichen Belangen unterstützt ihn ein Freund. Mit der Zeit steigt die Nachfrage zu seinem Produkt und der Handwerker muss zusätzlich Handwerker einstellen. Für die damit einhergehenden Personalthemen und den wachsenden buchhalterischen Aufgaben wird auch eine Bürokraft eingestellt. Da die Nachfrage des Produkts weiter steigt und auch örtlich weit entfernte Anfragen kommen werden Vertriebsaktivitäten an Zwischenhändler und Makler abgegeben. Darüber hinaus müssen Fertigungsmaschinen angeschafft werden, was zusätzliche Aufgaben, beispielsweise zur Arbeitssicherheit eröffnet. Auch betriebswirtschaftlich kommen immer mehr Aufgaben hinzu. Der Handwerksbetrieb wandelt sich allmählich in einen Industriebetrieb. Die wachsende Mitarbeiteranzahl macht eine Leitungsstruktur erforderlich und einzelne Fertigungsschritte müssen aufgeteilt werden. Neue Produkte und neue Fertigungsstandorte kommen hinzu.

Würde der selbstständige Handwerker versuchen jeden Unternehmensbereich voll unter Kontrolle zu haben müsste er entweder auf Wachstum verzichten oder übermenschliche Kräfte besitzen. Mit dem Wachstum verschiebt sich allerdings auch sein Fokus, weg von einer produktiven Arbeit, hin zu einer kontrollierenden Arbeit. Wo dieser Fokus liegen muss, kann sich im Laufe der Zeit ändern. Daher ist es wichtig den eigenen Fokus immer wieder zu Hinterfragen.

Avatar von Benedikt Heinrich